Polymedikation-Beratung in der Apotheke: Wer viele Medikamente einnehmen muss, schluckt das Risiko mit
27.04.2024
Jeder siebte Deutsche muss langfristig oder dauerhaft mindestens fünf Medikamente einnehmen. Bei den Über-65-Jährigen sind es sogar 43 Prozent. Das heißt, mindestens fünfmal den Beipackzettel studieren, um dann als Laie bei Wechselwirkungen, Unverträglichkeiten oder Doppelverordnungen zu kapitulieren. Manchmal führt der Medikamentenmix (Polymedikation) dazu, dass sich bestimmte Wirkstoffe gegenseitig so beeinträchtigen, dass sich die gewünschte Heilwirkung nicht einstellt. Dies kann zu einer Einschränkung der Lebensqualität oder sogar zu einer akuten gesundheitlichen Krise führen.
Dr. Holger Isensee von der Pregizer Apotheke in Pforzheim klärt im Gespräch mit Vital-Region.de über Probleme bei der Polymedikation auf und zeigt, was die Medikationsberatung in Apotheken leisten kann.
Herr Isensee, in jeder Medikamentenverpackung liegen Beipackzettel. Da müsste doch eigentlich alles draufstehen, was das Thema Wechselwirkungen und Unverträglichkeiten mit anderen Medikamenten betrifft. Reicht das nicht aus?
Dr. Holger Isensee: Man muss sich vor Augen führen, dass sich ein Laie schwertut, die Gewichtung von Nebenwirkungen im Beipackzettel vorzunehmen. Bei Wechselwirkungen ist ein Patient eigentlich chancenlos. Da braucht es schon den Apotheker als Arzneimittelfachmann, um eine aussagekräftige Aussage bezüglich der Verträglichkeit zu treffen. Eine Analyse der Medikation stellt nach meiner Erfahrung für die Patienten in vielerlei Hinsicht eine große Hilfe dar.
Warum nutzen Kunden Ihre Medikationsberatung in der Apotheke? Wollen Sie weniger Medikamente einnehmen oder liegen Ängste vor Nebenwirkungen vor?
Dr. Holger Isensee: Ich erlebe drei Hauptmotive in meinen Beratungen: Es gibt zum einen Patienten, die sich körperlich oder psychisch nicht gut fühlen und nicht wissen, ob dies mit den vielen Medikamenten zusammenhängt, die sie einnehmen. Andere möchten gerne ihren Gesundheitszustand aktiv verbessern. Wieder andere haben Angst und möchten auf Nummer sicher gehen, dass nichts schiefläuft. Für alle drei Gruppen lohnt es sich, die Medikation unter die Lupe zu nehmen! Die Krankenkassen haben verstanden, dass viele Komplikationen und sogar Krankenhausaufenthalte durch eine fundierte Analyse vermieden werden können. Deshalb hat jeder Versicherte, der fünf und mehr Medikamente dauerhaft einnimmt, Anspruch auf eine solche Polymedikationsberatung in der Apotheke.
Ziel Ihrer Beratung ist ein optimierter Medikationsplan. Wie gehen Sie dabei vor?
Dr. Holger Isensee: Der Patient vereinbart bei mir einen persönlichen Beratungstermin. Er bringt neben seinem ärztlichen Medikationsplan alle weiteren Arzneimittel mit, die er zusätzlich selbst gekauft hat. Ich erfasse sämtliche Wirkstoffe und befrage den Patienten zu seinem Befinden und seinen Beschwerden. Häufig stelle ich fest, dass ein Patient gar nicht weiß, weshalb er bestimmte Arzneimittel überhaupt einnimmt. Ich werte im Nachgang alle Informationen pharmazeutisch umfassend aus. Dann kommt der Patient zum zweiten Mal zu mir. Ich gehe nun Schritt für Schritt alle einzelnen Präparate mit ihm durch und erkläre ganz genau, wann und wie sie einzunehmen sind. Bei Unstimmigkeiten, Doppelverordnungen oder wichtigen Wechselwirkungen überstelle ich den Patienten an seinen Arzt, damit dieser die erforderlichen Anpassungen vornehmen kann.
Was sind die Vorteile des Medikationsplans für den Kunden?
Dr. Holger Isensee: Mir ist es überaus wichtig, dass der Patient am Ende genau weiß, warum er welche Arzneimittel einnimmt, bei welchen ein striktes, regelmäßiges Einnahmeschema einzuhalten ist, und welche nur bei Bedarf einzunehmen sind. Es gilt, die Spreu vom Weizen zu trennen. Auf einem übersichtlichen Blatt vermerke ich alles, was der Patient wissen muss. Ein wichtiges Augenmerk lege ich auf eine gezielte Therapie-Ergänzung durch Mikronährstoffe, denn bei vielen chronisch Kranken sind bestimmte Regulationsprozesse aus dem Ruder gelaufen. Diese kann man durch natürliche Stoffe sehr gut wieder ins Gleichgewicht bringen. Der Patient fühlt sich besser, seine Therapie wird unterstützt und er kann im besten Falle Arzneimittel einsparen.
Wie detailliert ist Ihr Medikationsplan?
Dr. Holger Isensee: Der optimierte Medikationsplan, den ich individuell für den Patienten erstelle, enthält sämtliche Präparate inklusive aller Nahrungsergänzungsmittel mit den genauen Einnahmevorschriften. Natürlich ist der Arzt derjenige, der die Therapie letztendlich festlegt, deshalb ist in bestimmten Fällen eine direkte Kontaktaufnahme mit der Hausarztpraxis erforderlich.
Wer Blutverdünner schluckt, sollte nicht jedes Schmerzmittel nehmen. Können Sie uns aus Ihrer Beratungspraxis ein paar andere Beispiele nennen, in denen Sie bei einer Medikationsberatung mögliche Gefahren entdecken konnten?
Dr. Holger Isensee: Es gibt durchaus dramatische Fälle, bei denen ein Patient von unterschiedlichen Ärzten gleichzeitig behandelt wird und es dadurch unwissentlich zu Doppelverordnungen von stark wirksamen Arzneistoffen kommt. Hier muss aufgrund gefährlicher Überdosierungen sofort gehandelt werden! Auch sehe ich immer wieder Patienten, die im Krankenhaus eine Medikation erhalten haben, die bei der ambulanten Weiterbehandlung ohne wirklichen Anlass fortgeführt wird. Diese überflüssigen Medikamente können ärztlicherseits gestrichen werden.
In allen meinen Beratungsfällen halte ich es für fundamental, dass jeder Patient seine Medikation bis ins Kleinste versteht. Der Patient weiß nach meiner Beratung, was er wann und wie einzunehmen hat. Es ist wichtig zu wissen, welche Medikamente er absolut regelmäßig einnehmen muss, damit sie überhaupt ihre Wirksamkeit entfalten. Außerdem mache ich die Erfahrung, dass durch eine gezielte Mikronährstoffergänzung unangenehme Begleiterscheinungen wie Schwindel, Müdigkeit, Schlafstörungen oder die Neigung zu Krämpfen durchaus verbessert werden können. Manche gut gemeinte Empfehlung aus dem Bekanntenkreis kann man ersatzlos streichen. Es geht darum, wichtig von unwichtig zu unterscheiden und Ordnung zu schaffen.
Ist der Medikationsplan auch digital verfügbar?
Dr. Holger Isensee: Der ärztliche Medikationsplan ist ein elektronisches Dokument, das in der Arztpraxis verwaltet wird. Dieser Medikationsplan kann digital auf der Versichertenkarte abgespeichert werden. Wir drucken unseren (auch digital verfügbaren) Medikationsplan zum Mitnehmen auf Papier aus und gehen ihn mit dem Patienten Schritt für Schritt durch. In der Arztpraxis wird eine Änderung von Verordnungen festgeschrieben.
Beschränkt sich Ihre Polymedikationsberatung eigentlich auf die Medikamente, die jemand einnimmt?
Dr. Holger Isensee: Nein, denn Medikamente tragen nur einen bestimmten Teil zur Gesundheit bei. Viele Aspekte addieren sich, Medikamente können keine Wunder vollbringen. Deshalb führe ich immer eine kurze Ernährungsberatung durch und gebe Hinweise zur Änderung des Lebensstils. Die Patienten sind dankbar für Hinweise, wie sie selber durch kleine Anpassungen im täglichen Leben ihren Gesundheitszustand verbessern können. Da ich mir einen Rundum-Überblick verschaffe, fallen mir durchaus Unstimmigkeiten auf. Wenn ich den Verdacht hege, dass der Blutzuckerspiegel eines Patienten nicht im Normbereich liegt, führe ich einen Blutzuckertest durch. Immer wieder stellt sich heraus, dass eine unerkannte Diabetes-Erkrankung vorliegt, die umgehend behandelt werden muss. tok
Quelle: www.vital-region.de